Drehwerkzeuge

Werkzeugentwicklung für tiefes Innendrehen

Im Forschungsprojekt ‘FLIBB – Flexibles Innendrehen in beliebiger Bearbeitungstiefe‘ wird ein leistengeführtes Werkzeugsystems für Innendrehoperationen in großer Bearbeitungstiefe entwickelt. Beteiligt sind das Institut für Spanende Fertigung der TU Dortmund sowie die Unternehmen BGTB GmbH und Lühmann & Brockmann CNC-Technik GmbH.
15. Februar 2023
Die immer häufiger geforderte Innenbearbeitung stellt hohe Anforderungen an das Werkzeug und den gesamten Prozess aufgrund der erschwerten Zugänglichkeit, des geringen Bauraums und des Auftretens von Schwingungen und Abdrängungen© ISF
Autoren: Timo Rinschede, M. Sc., Dr.-Ing. Moritz Fuß, Dr.-Ing. Maximilian Metzger und Rainer Brockmann
Ein großer Anteil der Produktionstechnik wird durch die Zerspanung umgesetzt. Branchenübergreifend ergeben sich eine zunehmende Komplexität vieler Bauteile sowie bedeutend steigende Anforderungen an diese. Hierfür müssen die Werkstücke vielfältige sowie präzise gefertigte Konturen aufweisen. Stehen im Bereich der Außenbearbeitung umfangreiche Möglichkeiten zur mechanischen (Nach-) Bearbeitung zur Verfügung, so reduzieren sich diese Möglichkeiten bei der Innenbearbeitung durch die erschwerte Zugänglichkeit sowie den geringen Bauraum und das Auftreten von Schwingungen und Abdrängungen deutlich.
Daher beschränkt sich die Innenbearbeitung, im Besonderen für kleinere Bauteile, auf zylindrische Bohrungen sowie das Innenkonturieren in geringen Tiefen. Beim Innendrehen liegt dabei das erreichbare Bohrlänge-zu-Bohrungsdurchmesser-Verhältnis (l/D-Verhältnis) mit bereits schwingungsgedämpften Drehwerkzeugen bei l/D < 7. Auskammerwerkzeugsysteme ermöglichen hingegen höhere l/D-Verhältnisse, aufgrund des komplexen mechanischen Aufbaus, jedoch erst ab einem größeren Bearbeitungsdurchmesser. An dieser Herausforderung ansetzend findet im Forschungsprojekt ‘FLIBB – Flexibles Innendrehen in beliebiger Bearbeitungstiefe‘ eine Entwicklung eines leistengeführten Werkzeugsystems für Innendrehoperationen in großen Bearbeitungstiefen durch das Institut für Spanende Fertigung der TU Dortmund sowie die Firmen BGTB GmbH und Lühmann & Brockmann CNC-Technik GmbH statt.
Übersicht der Verfahren zur Innenkonturierung von Bauteilen© ISF

Hohe Ausspannlänge begünstigt die Schwingungsneigung

Innenlängsdrehversuche auf einer CNC-Drehmaschine in Durchgangsbohrungen mit einem Innendurchmesser von D = 14 mm bilden die Referenz für das neuartige Werkzeugsystem und die Grundlage für eine Schnittparameter- sowie Schneidplattenauswahl. Die Versuche wurden dabei mit einem Innendreh-Klemmhalter mit einer Ausspannlänge von l = 64 mm und verschraubten Schneidplatten zum Rückwärtsdrehen, Nutenstechen, Profildrehen sowie Vollradiusdrehen umgesetzt. Es erfolgte eine Variation der Schnittparameter (Schnitttiefe, Schnittgeschwindigkeit, Vorschub) und eine prozessbegleitende Aufzeichnung der mechanischen Werkzeugbelastungen. Im Anschluss wurde die Spanform dokumentiert und die Oberflächengüte mit Hilfe eines Konfokalmikroskops gemessen. Auf Werkstoffseite kamen die Superlegierung Inconel 718 und der Vergütungsstahl 42CrMo4+QT zum Einsatz.
Als Kerncharakteristik zeigt sich in den Versuchen eine ausgeprägte Schwingungsentstehung, wobei sich dies unmittelbar auf die mechanischen Werkzeugbelastungen sowie die erzielte Oberflächengüte auswirkt (siehe obiges Bild). Die Schwingungsneigung wird dabei durch die hohe Ausspannlänge begünstigt, sodass noch größere Bearbeitungstiefen eine weitere Minderung der Bearbeitungsqualität sowie Maßhaltigkeit hervorrufen werden. Eine geringere Ausprägung von Schwingungen zeigte sich bei der Wahl mittlerer Schnittparameter (42CrMo4+QT: vc = 40 m/min, ap = 0,75 mm, f = 0,05 mm; Inconel 718: vc = 25 m/min, ap = 0,3 mm, f = 0,04 mm) unter Einsatz der Rückwärtsdreh- sowie der Vollradiusplatte. Für beide Werkstoffe wurden zudem Standzeitversuche mit Rückwärtsdrehplatten umgesetzt, bei welchen die Schneidplatten über eine Eingriffszeit von th = 30 min eingesetzt und dokumentiert wurden. Bei geeigneter Schnittparameterwahl wurde bei der Bearbeitung kein Standzeitkriterium erreicht, sodass die Werkzeuge auch in zeitlich intensiven Innenbearbeitungsprozessen Anwendung finden können.
Die Vorversuche konnten folglich die Grenzen des konventionellen Innendrehens deutlich aufzeigen, gleichzeitig jedoch die Eignung der Schneidplatten für das zu entwickelnde Werkzeugsystem sicherstellen. Darüber hinaus konnten günstige Schnittparameterbereiche identifiziert werden.
Vorversuche zur Innendrehbearbeitung© ISF

Vorteile des Innendrehens mit denen des Auskammerns vereint

Im weiteren Projektverlauf erfolgt die Entwicklung und der Einsatz des Werkzeugsystems, welches dreiteilig aufgebaut sein wird. Dabei werden eine Antriebs- und Anbindungseinheit, ein Schubgestänge und ein Werkzeugkopf mit Schneidplatte die Kernkomponenten darstellen. Eine Leistenführung des Werkzeugkopfes wird zu einem schwingungsvermeidenden Aufbau unabhängig von der zu bearbeitenden Tiefe beitragen, eine integrierte Aktorik ermöglicht eine CNC-basierte Schneidenausstellung. Weiterhin wird das System über eine integrierte KSS-Zufuhr für eine zielgerichtete Spanabfuhr und die Kühlung der Schneide verfügen. Im Allgemeinen können durch das Werkzeugsystem in der Folge die Vorteile des Innendrehens mit denen der Auskammerbearbeitung kombiniert werden.
Der ganzheitliche Ansatz der Werkzeugentwicklung umfasst hierfür die mechanische, mechatronische und simulative Auslegung des Systems. Nach der Konstruktion und Fertigung erfolgen Einsatzversuche auf verschiedenen Werkzeugmaschinen, wobei eine adaptive Anpassungsfähigkeit auf variierende Maschinensysteme ein elementares Projektziel darstellt. Die übergeordnete Werkzeugentwicklung ist hierbei zweigeteilt und beinhaltet in einem ersten Schritt die Auslegung eines stehenden Systems. Im darauffolgenden zweiten Schritt erfolgt die Weiterentwicklung zu einem rotierenden Werkzeugsystem, sodass der Bereich in Frage kommender Werkzeugmaschinen erweitert und auch eine außermittige Innenkonturierung bei stehenden Werkstücken ermöglicht wird. Der Projektabschluss wird durch einen erstmaligen Einsatz des neuen Bearbeitungsverfahrens bei einem Anwender im industriellen Produktionsumfeld abgebildet.
Konzeptioneller Aufbau und Eigenschaften des neuartigen Werkzeugsystems© ISF

Teile leichter, belastbarer und funktioneller

Die Vorteile für den Anwender ergeben sich durch eine Gewichtsreduktion der Werkstücke, eine Steigerung der Belastbarkeit sowie eine Erweiterung der Bauteilfunktionen. Das Marktumfeld ist entsprechend des breiten Anwendungsspektrums des Werkzeugsystems vielfältig. Konkret können hier Maschinen- und Automobilbau, Luft- und Raumfahrt, Energiegewinnung sowie die Lebensmittelindustrie aufgeführt werden, welche eine große Reihe von Bauteilen mit bisher lediglich zylindrischen Bohrungen aufweisen. Als konkrete Anwendungsbeispiele können Antriebs- und Rotorwellen im Bereich der Elektromobilität genannt werden, welche bei konstanter mechanischer Belastbarkeit gewichtsreduziert realisiert werden können.
Common Rails können ein weiteres Beispiel darstellen, bei welchem mittels der Innenkonturierung bei gleichbleibender Bauteillänge sowie mechanischer Belastbarkeit das innere Kraftstoffvolumen erhöht werden kann. Weiterhin wird das Potential durch die universale Einsetzbarkeit auf bestehenden Maschinen verstärkt. Dies bedeutet, dass die spezialisierte Fertigungstechnologie auch kleinen und mittelständischen Unternehmen ermöglicht wird, ohne, dass eine Neuanschaffung einer teuren Werkzeugmaschine erforderlich wird.
Dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Fördermaßnahme ‘KMU-innovativ: Produktionsforschung‘ gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor.