Bei der Konstruktion von Flugzeugen spielen ein geringes Gewicht und eine hohe Sicherheit besonders wichtige Rollen. Daraus ergeben sich Besonderheiten bei der Konstruktion der verbauten Komponenten. So besteht ein typischer Flugzeugrumpf unter der äußeren Verkleidung aus einem Gerippe, den sogenannter Spanten. Dies sind Strukturbauteile von bis zu sechs Meter Länge, die zumeist aus Aluminium gefertigt werden. Um Schwachstellen zu vermeiden, werden diese Spanten, trotz ihrer Größe, typischerweise aus dem Vollen gefräst. Das Zerspanvolumen liegt dabei oft über 90 Prozent des Volumens des Rohteils. Aufgrund der großen Abmaße der Rohteile und der entsprechend langen Prozessdauern, stellt die Spantproduktion einen hohen Kostenfaktor dar. Bisher wird der Prozess mit Hilfe des Spindelstroms überwacht. Dieser korreliert mit dem Werkzeugdrehmoment, welches wiederum von der Zerspankraft beeinflusst wird. Schäden am Werkzeug oder Anomalien wie etwa lokale Hartzonen im Werkstück können damit erkannt werden. Die Genauigkeit der strombasierten Überwachung ist jedoch zum einen durch die Datenrate der Maschinensteuerung (ca. 100 Hz) und zum anderen durch das in der Regel variierende Übertragungsverhalten der Maschinenstruktur und insbesondere auch der Spindel begrenzt. Ein Fehlertyp, der durch die spindelstrombasierte Überwachung gänzlich unerkannt bleibt, ist der Bauteilverzug. Da das Werkstück in der Aufspannung fest fixiert ist, zeigt sich der Verzug erst bei der Entnahme aus der Spannvorrichtung.
Kraftmessung als Grundlage für die vertikal integrierte Produktion
In der Vergangenheit wurde der Einsatz sensorischer Spannmittel am IFW bereits mit dem Fokus auf Spannzustand [DEN19] und kraftbasierte Prozessüberwachung [LIT11, TEI21] untersucht. Darauf aufbauend wird nun erforscht wie zusätzlich zur genauen Messung der Zerspankraft auch der Bauteilverzug bereits während der Bearbeitung detektiert werden kann. Dies geschieht im Rahmen des Forschungsverbunds „Vertikal integrierte nachhaltige end-to-end Fabrik“ (VerticalE2E) unter der Leitung des Flugzeugkomponentenherstellers Premium Aerotec GmbH (PAG). Die gemessenen Kraftdaten sollen langfristig auch genutzt werden, um weitere Bauteileigenschaften wie die Oberflächengüte bereits im Prozess zu bestimmen und so den Aufwand nachgelagerter Qualitätskontrollen zu reduzieren. Angestrebt wird eine Zerspankraftmessung mit einer Messauflösung von 1 N bei Frequenzen von bis zu 2000 Hz.
Versuchsträger ermöglicht Untersuchungen am Institut
Zur Durchführung der Forschungsarbeiten wurde im Projekt eine Analogie-Bauteilgeometrie definiert (Bild 1). Dabei handelt es sich um einen Spantabschnitt, der mit seiner Taschenstruktur über typische Formelemente der in Flugzeugen verbauten Spanten verfügt. Sechs Aufspannflächen ermöglichen dabei die Einspannung.
Zur Einspannung des Analogiebauteils wird das in Bild 2 dargestellte Spannsystem derzeit am IFW prototypisch realisiert. Zum Einsatz kommen dabei elektrische Schwenkspanner vom Typ 1835C090R26M der Römheld GmbH. Diese bringen die Spannkraft durch eine Tellerfeder auf. Elektrische Energie wird lediglich während des Spann- und Entspannvorganges benötigt. Durch die verwendete Fixierung an sechs Aufspannpunkten wird eine statisch überbestimmte Spannsituation nachgebildet, wie sie auch zur Spantfertigung eingesetzt wird.
Um die Schwenkspannelemente mit sensorischen Fähigkeiten auszustatten, werden Dehnungsmessstreifen (DMS) eingesetzt. Dehnungsmessstreifen sind in der Lage, kleinste Dehnungen anhand der elektrischen Widerstandsänderung in einer Leiterbahnstruktur zu messen, die infolge der Querschnittsänderung durch Verformung auftritt. An jedem Schwenkspannelement wird die Dehnung so an jeweils drei Messpunkten erfasst. Um eine optimale Sensitivität zu erreichen, werden die DMS an Positionen appliziert, an denen unter Belastung eine hohe Dehnung auftritt. Mit einer Finite Elemente Simulation (Vergrößerung in Bild 2) werden solche Bereiche mit hoher Dehnung ermittelt. Diese Methode wurde bereits in vorangegangenen Arbeiten am IFW eingesetzt, um Schwenkspanner mit sensorischen Fähigkeiten zu versehen [DEN16]. Der gezeigte Aufbau wird nun eingesetzt, um Methoden zur Rekonstruktion, sowohl der Zerspankraft als auch des Bauteilverzugs, anhand der gemessenen Dehnungsinformationen zu entwickeln. Eine hohe Genauigkeit wird dabei durch den Einsatz besonders sensitiver Halbleiter-Dehnungsmessstreifen erreicht.
Halbleiter-Dehnungsmessstreifen für gesteigerte Sensitivität auch an hochsteifen Strukturen
Werkzeugmaschinen und Spannelemente werden üblicherweise hinsichtlich einer maximalen Steifigkeit und Robustheit ausgelegt. Die durch den Prozess hervorgerufenen Dehnungen in den Maschinenkomponenten sind deshalb nur sehr gering. Klassische DMS aus Metallen wie Konstantan oder Platin weisen K-Faktoren im Bereich zwischen 2 und 6 auf, wodurch das Verhältnis von elektrischem Signal zur Dehnung quantitativ beschrieben wird. Je höher der K-Faktor, desto sensitiver ist der DMS. Um eine besonders sensitive Messung mit konventionellen DMS zu ermöglichen, mussten in der Vergangenheit Kerben in die Komponenten eingebracht werden [BOU19]. Durch die so hervorgerufenen lokalen Dehnungsüberhöhungen wird die Messsensitivität gesteigert. Die im Projekt verwendeten Halbleiter-DMS verfügen mit einem K-Faktor von 200 jedoch über eine deutlich größere Sensitivität. Das Einbringen von Kerben ist dadurch nicht notwendig. Um die Auswirkung der höheren Sensitivität der Halbleiter-DMS auch im Einsatz am Spannelement nachzuweisen, wurden die beiden Typen von Dehnungsmessstreifen auf ein Schwenkspannergehäuse appliziert und am Spanneisen eine Kraft von 50 N in verschiedene Raumrichtungen aufgebracht. In Bild 3 sind die resultierenden Messwerte der Dehnungsmesstreifen dargestellt. Während die Signale der Metall-DMS eine geringe Amplitude aufweisen (siehe vergrößerter Ausschnitt A), zeigen die Halbleiter-DMS eine mehr als hundertfach höhere Sensitivität.
Im Projekt Vertical E2E wird erstmals erforscht, wie sowohl die Zerspankraft als auch der Bauteilverzug des gefertigten Werkstücks mittels sensitiver Spanelemente online im Prozess bewertet werden können. Die zu diesem Zweck eingesetzten Halbleiter-Dehnungsmessstreifen erreichen eine deutlich höhere Messsensitivität als herkömmliche DMS-Varianten aus Metall. Auf allen Spannelemente des Spannsystems werden daher Halbleiter-DMS appliziert. Die auf die Spannelemente wirkenden Kräfte können so mit hoher Auflösung erfasst werden. Es wird zukünftig untersucht, mit welcher Genauigkeit sich Prozesskräfte und Bauteilverzug in der statisch überbestimmen Spannkonfiguration anhand der gemessenen Dehnungen rekonstruieren lassen. So wird die Grundlage für die Umsetzung einer kraftbasierten Prozessüberwachung und Prognose von Qualitätsmerkmalen geschaffen. Die Unterscheidung der sich überlagernden Spann-, Verzugs- und Zerspankraft sowie der thermischen Einflüsse auf das Messsignal stellt dabei besondere Herausforderungen dar.
Über die Autoren
Prof. Berend Denkena, Leiter des Instituts für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (IFW) der Leibniz Universität Hannover
Dipl. Ing. Heinrich Klemme, Leiter Bereich Maschinen und Steuerung am IFW
M.Sc. Heiko Blech, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am IFW
Dr.-Ing. Christian Teige, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am IFW
[BOU19] Boujnah H (2019) Kraftsensitiver Spindelschlitten zur online Detektion und Kompensation der Werkzeugabdrängung in der Fräsbearbeitung, Dissertation, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover; TEWISS – Technik und Wissen GmbH.
[DEN19] Denkena B, Bergmann B, Kiesner J (2019) Increasing the measuring accuracy of a sensory swing clamp by multi-sensor evaluation. Journal of Manufacturing Science and Engineering 141(11).
[LIT11] Litwinski KM (2011) Sensorisches Spannsystem zur Überwachung von Zerspanprozessen in der Einzelteilfertigung. PZH Produktionstechnisches Zentrum GmbH, Garbsen.
[TEI21] Teige C, Fertig A, Denkena B, Bergmann B, Weigold M (2021) Intelligente Vernetzung für die Fräsbearbeitung/Intelligent networking for milling processes. wt 111(01–02):14–19.