Verzahnungsmesstechnik
Ohne Heulen und Zähneklappern
Um die Zahnräder von Getrieben in der Elektromobilität vor dem Einbau genau zu prüfen, hat Marposs eine inline-fähige NVH-Prüfstation entwickelt. Die Anlage misst vergleichbar zu den End-of-Line-Prüfständen für komplette Getriebe im Einflankenwälzprüfverfahren.
6. November 2023
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von Kerstin Rogge
Wer hat sich nicht schon einmal erschreckt, wenn plötzlich ein Elektroauto ganz nah kommt? Ohne das typische und vertraute Motorengeräusch eines Verbrennungsmotors sind die Fahrzeuge im Straßenverkehr kaum zu hören und fahren auch ohne Nebengeräusche extrem leise. Durch den Wegfall des Motorgeräusches steigt logischerweise der Anteil aller anderen Komponenten – also auch des Getriebes – am Gesamtgeräusch des Fahrzeugs. Ein Grund mehr, beispielsweise die Zahnräder von Elektrogetrieben vor dem Einbau genau zu prüfen. Marposs hat dafür eine inline-fähige NVH-Prüfstation im Programm. Die Anlage misst vergleichbar mit den End-of-Line-Prüfständen für komplette Getriebe bei den Getriebeherstellern.
Noise, Vibration and Harshness (Geräusch, Schwingung, Rauheit), kurz NVH, ist der Oberbegriff für wahrnehmbare Schwingungen an Fahrzeugen und Maschinen. NVH zu messen, ist deshalb für alle Hersteller ein wichtiger Bestandteil der Qualitätskontrolle. Gerade bei Fahrzeugen ist das Empfinden von Geräuschen und Vibrationen auch ein Teil des Fahrgefühls. NVH-Prüfungen dienen dazu, das Verhalten einzelner Komponenten objektiv festzustellen.
Die ‘NVH G-Ear‘ von Marposs arbeitet nach dem bewährten Prinzip der Einflankenwälzprüfung. Dabei berührt ein Meisterzahnrad den Prüfling an einer Flanke und treibt ihn an. Mit diesem Verfahren lassen sich auch kleine Unregelmäßigkeiten an Getriebezahnrädern erkennen. Die Messung erfolgt bei kleinen Drehzahlen mit Inkrementalgebern.
Elektromotoren und ihre Getriebe zeichnen sich jedoch durch hohe Drehzahlen aus, für die sich die Messung von Drehschwingungen mit einem Drehbeschleunigungssensor eignet. Dieser Sensor wird direkt unter dem Prüfling angebracht und misst die Schwingungen und deren Änderungen bei hohen Drehzahlen. Dieses Verfahren wird daher bevorzugt bei Getrieben von Elektrofahrzeugen eingesetzt. Um die hohen Drehzahlen aushalten und gleichzeitig empfindlich messen zu können, muss das System eine gewisse Stabilität aufweisen. Deshalb hat eine typische NVH G-Ear Abmessungen von stolzen 3 × 8 × 8 m und wiegt etwa 8 t.
Geräusche sind unerwünscht
Insgesamt sollen alle Getriebe immer leiser werden. Das fordern internationale Vorschriften ebenso wie die Verbraucher. Heult es im Getriebe, liegt das meist an Fehlern in der Mikrogeometrie der Zahnräder, also an Oberflächenfehlern, die beim Ineinandergreifen der Zähne Schwingungen verursachen. Fehler in der Makrogeometrie wie Kerben oder Rundlauffehler verursachen Klappergeräusche. Auch Zahnräder, die innerhalb der Fertigungstoleranzen hergestellt wurden und übliche Qualitätsprüfungen bestanden haben, können im Getriebe bei bestimmten Frequenzen Geräusche erzeugen. Dieser sogenannte Ripple-Effekt weist auf Schäden in der Mikrogeometrie hin. Die Einflankenwälzprüfung detektiert solche Schäden.
Sind die Zähne fehlerhaft, stört das nicht nur das Ohr des Fahrers. Bereits bei der Montage des Getriebes können Probleme auftreten, die im schlimmsten Fall die gesamte Baugruppe beschädigen oder unbrauchbar machen. Das ist das Problem bei der Messung an fertig montierten Baugruppen. Um dies zu umgehen, bietet es sich an, die einzelnen Komponenten vor der Montage zu prüfen. Dies ist jedoch nur realistisch möglich, wenn die Messung den Produktionsablauf nicht stört. Hier kommt es vor allem auf Schnelligkeit an.
Die NVH G-Ear ist mit ihren kurzen Prüfzyklen von meist 20 bis 30 Sekunden schnell genug für eine 100%-Prüfung in der laufenden Produktion. Die Messdaten können einfach an ein Prüfsystem am Ende der Fertigung übertragen werden.
Raus aus dem schalltoten Raum direkt zum Ursprung der Geräusche
Herkömmliche Geräuschmessungen finden in einem sogenannten schalltoten Raum statt, also in einem abgeschlossenen Laborbereich, der wenig oder gar keinen Schall reflektiert. Sie sind aufwendig und daher für produzierende Unternehmen nicht praktikabel.
Zudem ist für die Auswertung der so per Mikrofon aufgezeichneten Signale umfangreiches Expertenwissen erforderlich. Auch die Lösung, Sensoren am Getriebegehäuse zu montieren, ist ein Umweg, bei dem sich der Ursprung eines auffälligen Geräusches nur schwer oder gar nicht ermitteln lässt. Deshalb setzt Marposs mit der NVH G-Ear auf die Messung direkt an der Geräuschquelle: an der rotierenden Welle.
Vielseitig, präzise und schnell
Getrieberäder bis 250 mm Durchmesser und Wellen bis 350 mm Länge – das schafft die NVH-G-Ear, sodass ein durchschnittlicher Getriebefertiger mit einem einzigen Prüfstand auskommt. Der Prüfbereich reicht bei den Drehzahlen bis 3000 min-1 und bei den Drehmomenten bis 40 Nm. Um besonders realistische Prüfbedingungen zu schaffen, können Drehzahl und Drehmoment auch während der Prüfung verändert werden. Das Maschinenbett aus Granit schützt vor Resonanzfrequenzen im Arbeitsbereich und generell vor störenden äußeren Einflüssen.
Damit erreicht die Prüfstation mitten in der Fertigungslinie eine Genauigkeit, die mit der von Analyselaboren vergleichbar ist. Diese Genauigkeit beruht vor allem auf der Präzision der hydraulischen oder mechanischen Spanndorne sowie auf dem hydraulischen Schlitten für die Zuführung.
Zahnrad- und Wellenmesssung
Gleichzeitig ist die NVH G-Ear durch die Möglichkeit, neben Zahnrädern auch Wellen zu messen, flexibel genug für schnell wechselnde Produktionsabläufe und kleine Losgrößen. Alle Komponenten sind gut zugänglich, was die Umrüstzeiten verkürzt und die Wartung vereinfacht. Sowohl die Spanndorne für die Werkstückspannung als auch die Meisterzahnräder können in kürzester Zeit gewechselt werden. Die Position des Meisterzahnrades wird über die NC-Achse eingestellt und am Bedienpult einfach angepasst.
Auch in eine bereits bestehende Produktionslinie lässt sich die Einflankenwälzprüfung mit der NVH-G-Ear problemlos integrieren. Sie eignet sich gleichermaßen für die Beladung durch ein Portalsystem oder einen Roboter. Die nötige Peripherie stellt Marposs nach Bedarf und passend zu den Kundenanforderungen zusammen. Möglich ist ein oberer Reitstock oder auch DMC-Lesegeräte (DMC=Data Matrix Code), Markiereinheiten und verschiedene Rutschen für Gut- und Ausschussteile.
Automatisierungslösungen zur Integration in die Fertigungslinie
Obwohl die Getriebe insgesamt einfacher werden und aus weniger Einzelkomponenten bestehen, haben die Automobilhersteller in der Regel eine sehr große Vielfalt an Zahnrädern und kompletten Getrieben im Programm. Entsprechend groß ist der Bedarf an Prüfeinrichtungen.
Marposs bietet mit der NVH G-Ear eine Erweiterung der klassischen Verzahnungsmesstechnik an. Kunden können die verschiedenen Funktionen an einer Demonstrationsmaschine auch mit ihren eigenen Bauteilen testen, wenn geeignete Spannmittel und Meisterzahnräder vorhanden sind.
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